Zum Stand der europäischen Finanztransaktionssteuer
Seit gut zehn Jahren diskutieren die EU-Finanzminister die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT). Von der europaweiten Einführung ist man heute genausoweit entfernt, wie von gemeinsamen und weitreichenden Vorstellungen zu welchem Zweck die FTT eingeführt werden soll. Was als ambitioniertes europäisches Steuerprojekt startete scheint Ende 2020 als koordinierte Aktiensteuer zu landen. Der enorme Finanzbedarf zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise brachte ab 2008 die Diskussion um die Einführung einer weltweiten Umsatzsteuer auf Wertpapiergeschäfte wieder ins Gespräch. Nach dem Scheitern der Gespräche im G20-Format schlug die EU-Kommission im Herbst 2011 die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT) für die gesamte EU27 vor. Besteuert werden sollte der Handel mit Anteilen und Anleihen mit einem Steuersatz von 0,1 % und Derivatkontrakte mit einem Steuersatz von 0,01 %. Dadurch seien laut Kommissionsvorschlag jährliche Einnahmen von etwa 57 Mrd. EUR zu erzielen. Die EU-Kommission begründete die Einführung mit der Schuldenbegleichung, die durch die globale Finanzkrise entstanden sind. Ebenso schien das Privileg der Mehrwertsteuerbefreiung des Finanzsektors und der daraus resultierende Steuervorteil in Höhe von rund 18 Mrd. Euro jährlich nicht mehr zeitgemäß. Um zu verhindern, dass Banken ins nichteuropäische Ausland abwandern, sah die EU-Kommission die Besteuerung jeder Transaktion vor, an der Akteure aus der EU beteiligt sind. Die gewonnenen Steuereinnahmen sollten in dem Land verbucht werden, in dem der Marktteilnehmende sitzt (Ursprungslandprinzip). Im Frühjahr 2012 legten die Nicht-Eurozonenländer Großbritannien und Schweden ihr Veto gegen den Kommissionsvorschlag für eine europaweite Einführung ein. Nach der Absage Londons sahen auch Luxemburg, Dublin und Den Haag keinen Sinn in der Einführung der FTT, womit die Einführung in der Eurozone ebenfalls vom Tisch war. Die deutsche Bundesregierung suchte nach dem Scheitern der einheitlichen Einführung eine Koalition williger Staaten, um über das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit (Art. 329 AEUV) die Einführung der FTT doch noch zu erreichen. Deutschland, Frankreich und Österreich sollten in den nächsten Jahren zu den energischsten Verfechtern der Einführung werden und die verstärkte Zusammenarbeit mit Belgien, Griechenland, Portugal, Slowenien, Italien und Spanien, Estland und der Slowakei vorantreiben. Von der FTT zur Aktiensteuer In den Folgejahren begann die Avantgarde-Allianz immer mehr zu wackeln und der Einführungseifer verblasste zunehmend. Estland verließ bereits 2015 die Gruppe. Ab 2016 führte der Brexit zu längeren Verhandlungspausen. Neue Regierungen in Frankreich und Deutschland sorgten zudem für eine Neuausrichtung der FTT-Pläne. Mit Emmanuel Macron übernahm ein ehemaliger Investmentbanker die Staatsführung in Frankreich. Die Amtsübernahme änderte auch den zu beratschlagenden Gesetzestext. Fortan sollte der Derivatehandel ausgeklammert und der Umsatz von Aktien besteuert werden. Damit hatte die neue Stoßrichtung nur noch wenig mit dem des scheidenden deutschen Finanzminister Schäuble gemein. Dieser sah in der Besteuerung von Derivaten eine Möglichkeit den Hochfrequenzhandel zu drosseln und somit die Finanzarchitektur zu stabilisieren. Auf deutscher Seite übernahm 2018 der SPD-Politiker Olaf Scholz die Führung des Bundesfinanzministeriums und damit die Zuständigkeit für die im Koalitionsvertrag vereinbarten FTT. Dieser legte seinen europäischen MinisterkollegInnen nach engen Abstimmungen mit seinem französischen Kollegen Le Maire im Dezember 2019 einen finalen Vorschlag für einen Richtlinientext zur Einführung der FTT vor. Dieser orientiert sich an der bereits seit 2012 existierenden französischen Aktiensteuer. Die Eckpunkte lauten: besteuert wird der Aktienerwerb von gelisteten Unternehmen, die ihren Hauptsitz im jeweiligen Inland haben sowie im Inland und im Ausland ausgegebene Hinterlegungsscheine, die mit Aktien dieser Unternehmen unterlegt sind; dabei werden nur Aktien von solchen Unternehmen einbezogen, deren Marktkapitalisierung über 1 Mrd. Euro liegt; der Steuersatz soll 0,2 Prozent betragen; die Besteuerung betrifft in erster Linie institutionelle Anleger, denn der Anteil der Geschäfte von Privatanlegern am Handelsvolumen mit deutschen Aktien ist mit insgesamt 3 Prozent sehr klein. In Deutschland fallen 150 Firmen unter diese Regelung. Der nun zur Abstimmung vorgelegte Text reicht nicht mehr an den ursprünglichen FTT-Vorschlag der EU-Kommission heran. Die Ausklammerung des Derivatehandels, die oben aufgeführten Eckdaten und der auf den zehn Staaten begrenzte Wirkungskreis führt zu geschätzten Einnahmen von rund 3,6 Mrd. Euro. Diese Einnahmen sollen in den nationalen Haushalten verbucht werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft solls richten Olaf Scholz steht unter Druck Der finale Kompromissvorschlag liegt im Mai 2020 bereits wieder über ein halbes Jahr auf Eis. Nun soll es die deutsche Ratspräsidentschaft richten. Die Koalition der Willigen scheint ebenfalls zu bröckeln. Österreich klinkte sich bereits nach Verkündigung des finalen Kompromisses aus. Kanzler Kurz sagte dazu: Wir wollen die Spekulanten besteuern, nicht die Sparer, die in Zeiten der Niedrigzinspolitik in Aktien investieren. Innerhalb der Koalition fordert Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) eine Rückkehr zur Ursprungsidee von 2011. Mit dem Austreten Österreichs aus der verstärkten Zusammenarbeit sind es nur noch neun EU-Staaten. Eine weitere Absage eines EU-Staates bedeutet das Aus für die verstärkte Zusammenarbeit und das für das Projekt FTT/Aktiensteuer. Die Zeit drängt. Scholz hat bereits die Einnahmen für die geplante Grundrente für 1,5 Mio. Anspruchsberechtigte ab 2021 fest in den Bundeshaushalt eingeplant. Sollte der Abschluss gelingen, dann aber mit aller letzter Kraft und weit entfernt vom europäischen Bestreben, Derivatehandel und Spekulation einzudämmen und das Finanzsystem zu stabilisieren. Am Ende könnte aus einer gut gemeinten europäischen FTT eine koordinierte Aktiensteuer für ein Drittel der EU-Mitgliedstaaten werden. Sollte die gemeinsame Verabschiedung nicht gelingen, so wird die Einführung einer nationalen Börsenumsatzsteuer unausweichlich. Ein Scheitern der Grundrente wäre zu Beginn des Wahljahres ein erheblicher Rückschlag für die SPD. Wir blicken gespannt auf die ECOFIN-Treffen während der deutschen Ratspräsidentschaft, die für Olaf Scholz und seine FTT/Aktiensteuer-Pläne die letzten Spieltage sein dürften: Eurogruppe/ECOFIN-Treffen am 9./10.7.2020, 11./12.9.2020 in Berlin, 5./6.10.2020, 3./4.11.2020. Stand: 4.6.2020